Und meint nicht, wir sind wenige!

Sonnabend, den 3. Oktober 1970

West-Berlins Anarchistenblatt '883'

von Bert Held

Sie sehen sich als "entschlossene Avantgarde", die einen "militärischen Kampf" führt, an dessen Ende die "geglückte Übernahme der Staatsmacht" steht. Ihre Überzeugung: "Nur dem Starken werden die Massen zulaufen."

Das sind Zitate aus '883', der einzigen deutschsprachigen Anarchisten-Zeitung. Seit rund eineinhalb Jahren propagiert sie allwöchentlich neu die Stärke von Fäusten, Steinen, Bömbchen und Brandsätzen und hofft auf den Zulauf der Massen.

Benannt wurde das West-Berliner 50-Pfennig-Blätt-chen nach den ersten drei Ziffern der Telefonnummer, unter der die Redaktion einst zu erreichen war. Vor Monaten noch diente die "Flugschrift für Agitation und sozialistische Praxis" - so der Untertitel - der Linken als Diskutier- und Anzeige-Plattform: Massive Kritik am kleinbürgerlichen Anarchismus" stand in "883" (Auflage nach eigenen Angaben: 6000 Exemplare).

Dann aber machten die so Kritisierten das Blatt zu ihrem alleinigen Sprachrohr und Mitteilungsorgan. Das augenblicklich sechs Mann starke, ständig wechselnde Redaktionskollektiv lebt vom Reingewinn, den die Untergrund-schrift abwirft.

Zwischen Inseraten von linken Buchhandlungen und von Spaghetti-Kneipen, in denen es Schmalzstullen gratis gibt, wird auf den acht bis zwölf DIN-A3-Seiten der illustrierten Wochen-Presse offen die Gewalt gepredigt: "Macht kaputt, was euch kaputt macht!" heißt der Schlachtruf. Und: "Worte können uns nicht retten, Worte sprengen keine Ketten, die Tat allein macht frei". Welche Taten gemeint sind, verraten der alles zerstampfende Stiefel auf der Titelseite, die Bild-Kollage mit dem Zeitbomben-Wecker und Sprüche wie: "Staatlicher Terror kann nur mit Gegenterror beantwortet werden."

Die poppig umbrochenen Spalten von '883' sind vollgepfropft mit Lobgesängen auf eigene und anderer Revoluzzer-Taten: "Rache für Kent und Kambodscha" habe ein Zerstörungstrüppchen genommen und dem "Feind einen großen Schaden zugefügt": Mittels 'Mollis' - wie die Molotow-Cocktails genannt werden. Amerikaner heißen in der Sprachregelung der Anarcho-Postille "Pigs" - aber auch Polizisten werden so bezeichnet. Ihr politisches Programm umreißen die Radikalinskis "Pig ist Pig - Pig muß putt!"

'883' mobilisiert die Gefolgsleute unter der schwarzen Fahne zu neuen Gewalttaten, denn "den offenen Kampf in der Kolonie West-Berlin scheuen ... heißt, sich mit dem Feind verbünden", und also gelte: "Beginnt den Klassenkampf in den Metropolen!" In der Metropole West-Berlin stehen "die bewaffneten Truppen des Sozialfaschisten Neubauer" - wie der Innensenator und oberste Polizeichef genannt wird den Bambutergrund" weiterzuwerkeln: Viermal durchsuchte Polizei die Redaktionsräume, konfiszierte Restexemplare der Agitationsschrift. Konkrete Hinweise auf Attentäter lieferte jedoch erst die Ordnungsliebe des Ex-Kommunarden Dieter Kunzelmann: In der Wohnung des 31jährigen glaubt die Kripo "ein Bündel schriftlicher Geständnisse" gefunden zu haben: Einen Ordner mit dem gesammelten Schriftwechsel des Untergrundlers.

Auf solche Glücksfälle ist die Polizei angewiesen. Denn West-Berlins Kaputtmacher, deren 'harter Kern' nach Schätzungen an die 200 Gewalttätige umfassen mag, zersplittern sich in einige Dutzend Grüppchen, die - im fliegenden Wechsel - meist beziehungslos nebeneinanderher terrorisieren. Ihre einzige Verbindung untereinander ist '883'. Da korrespondieren per Kleinanzeige zu zwei Mark die "Bomber Brothers" mit den "Bomber Sisters", Mitglieder der 'Palästinafront' publizieren sich autoritär mit "Mollies gegen MG's kämpfen?" stand es vollends im Abseits.

Die Masse der Linken distanzierte sich, weil sie - zu Recht - befürchtete, mitverantwortlich gemacht zu werden für die Taten verblendeter Terroristen. Für die Taten jener, die der linke Berliner "Extra-Dienst" für "lumpenproletarischen Strich" hält, mit fließenden Grenzen "zwischen der ultralinken Philosophie des Stärkeren und dem Faschismus". Gegen solche "revisionistischen Grüppchen" weiß '883' ein Mittel: "Zerschlagt den Berliner Extra-Dienst, wo Ihr ihn trefft".

Denn "in Wahrheit", behaupten die Untergründler mit den zündelnden Argumenten, "machen, verkaufen und lesen die revolutionären jungen Arbeiter, Studenten und Schüler" '883'.

Die Blatt-Macher und -Anhänger halten sich für "die bewaffnete Avantgarde des Volkes", für die "Masten des Schiffes, das am Horizont auftaucht". Sie, die Molli-Werfer, seien berufen, "die objektiven Bedingungen für die Revolution" zu schaffen, für "die Befreiung der Arbeiterklasse".

Den Mangel an Anhängerschaft, den sie leiden, putzt '883' protzig hinweg: "Und meint nicht, wir sind wenige!" Doch die Wirklichkeit der Anarchisten sieht wohl schwärzer aus: Während die APO längst wenig spektakuläre Basis-Kleinarbeit in der Provinz leistet, blieb der Anarchismus in West-Berlin isoliert. Trotz einiger weniger Nachahmer, die sich in Frankfurt, München oder Hamburg einen 'Molli' bastelten.

Das soll sich ändern: "Jeder von uns", verpflichteten sich Berliner Gewalt-Anhänger, werde "jeweils mindestens ein Exemplar" des Blattes "an Genossen in Westdeutschland" schicken.

Quelle: Der Blues, Seite 113+114