Enzensberger: Die Jahre der Kommune I

Folgender Text ist ein Kapitel aus Ulrich Enzensbergers Buch "Die Jahre der Kommune I" Berlin 1967 - 1969

Kapitel 13

Die umherschweifenden Haschrebellen

Abschied von gestern

Am 13. März 1969 ratifizierte der US-Senat mit 83 gegen 15 Stimmen den mit der UdSSR vereinbarten Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen. Bundeskanzler Kiesinger weigerte sich aber weiterhin strikt, auf die Atombombe zu verzichten. Der Einmarsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei hatte ihm außenpolitisch noch einmal eine Atempause verschafft. Aber der kalte Krieg kam nicht zurück. Es war klar, daß die BRD auf Dauer um eine Unterschrift unter den Sperrvertrag nicht herumkommen würde.

Am 16. März meldeten Moskau und Peking neue Gefechte am Ussuri. Peking verurteilte die Breschnew-Doktrin von der "begrenzten Souveränität" der sozialistischen Länder - die als Rechtfertigung des Einmarsches in die CSSR dienen sollte - als "rein faschistische Theorie". Moskaus Interesse an einer vertraglichen Regelung der europäischen Grenzen wurde immer dringender.

Am 17. März 1969 trafen sich die Staats- und Parteichefs der Warschauer-Pakt-Staaten in Budapest und unterbreiteten dem Westen den Vorschlag einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. In der Hauptsache ging es um die Anerkennung der bestehenden Grenzen durch Bonn. Aber die Einzelheiten des Vorschlags waren sensationell. Sie entsprachen den in den Geheimgesprächen zwischen SPD und SED gefundenen Kompromissen. Der Warschauer Pakt verzichtete auf die Forderungen nach einer diplomatischen Anerkennung der DDR und forderte nur mehr die Anerkennung ihrer "Existenz". Von einer "selbständigen Einheit West-Berlin" war nicht mehr die Rede. Das war ein Signal, das Moskau bereit war, unter gewissen Bedingungen die faktische Bindung Westberlins an die BRD abzusegnen. Dutschkes Idee von einer freien Räterepublik Westberlin versank langsam im Meer der niemals Wirklichkeit gewordenen historischen Möglichkeiten.

Berlin hatte seine Rolle als bevorzugter Zankapfel der Großmächte ausgespielt. Die Sowjetunion mußte die CSSR befrieden, in Polen den Staatschef Gomukla austauschen und hatte Probleme am Ussuri. Der Krieg in Vietnam ging weiter. Nixon gab den Geheimbefehl, die Schutzräume des vietnamesischen Vietcong in Kambodscha durch B-52 zu bombardieren. Am 17. April wurde Alexander Dubcek auf Druck Moskaus von seinem Amt abgelöst. Ende April 1969 marschierten die US-Armee und die südvietnamesische Armee in einer Geheimoperation in die kambodschanischen Grenzregionen ein und lösten damit den jahrelangen Bürgerkrieg aus, der in den "Killing Fields" der Roten Khmer endete. Der bisher neutrale Regierungschef Prinz Sihanouk suchte Hilfe bei Peking. Kambodscha nahm am 8. Mai 1969 als erstes nichtkommunistisches Land diplomatische Beziehungen zur DDR auf.

Jetzt ging es wieder um die Hallstein-Doktrin. Es war zum Verrücktwerden. Als Brandt erfuhr, daß Bundeskanzler Kiesinger die Beziehungen zu Kambodscha tatsächlich streng nach Dogma kappen wollte, geriet er in Rage: "Jetzt reicht's!" Nach wochenlangem Feilschen kam man schließlich überein, die Beziehungen nicht abzubrechen, sondern "einzufrieren". "Es war der letzte Kraftakt der Koalition." Der abberufene BRD-Botschafter sollte nach Bonn, die deutsche Botschaft in Phnom Penh unbesetzt bleiben. Das Wort "kambodschieren" kam auf.

Ein Damm brach. Die arabischen Staaten, die 1965 nach der Anerkennung Israels durch die BRD ihre Botschafter aus Bonn abberufen hatten, aber die DDR noch nicht anerkannt hatten, holten dies nun nach. Der Sudan erkannte die DDR an. Der Irak erkannte die DDR an. Syrien erkannte die DDR an. Die Demokratische Volksrepublik Jemen erkannte die DDR an. Die Vereinigte Arabische Pepublik erkannte die DDR an. Der Bonner Alleinvertretungsanspruch wurde zum Veitstanz.

When the music 's over

Die BRD und Westberlin kamen nicht zur Ruhe, im Gegenteil. Die Politik der Großen Koalition wurde immer widersprüchlicher und doppelbödiger. Die für September 1969 angesetzten Wahlen zum 6. Deutschen Bundestag warfen ihre Schatten vorraus. Die großen Parteien versuchten jetzt, es jedem Recht zu machen. Sie griffen durch und gaben sich liberal und umgekehrt. An den Universitäten wurden Polizeieinsätze alltäglich. Es wurde bekanntgegeben, man wolle die unerlaubte Ansammlung von Personen zu einer Ordnungswidrigkeit herabstufen. Am 27. März 1969 sperrte die Bundesregierung alle Zuschüsse für den Verband Deutscher Studentenschaften; dieser entwickle sich zu einem "revolutionärem Kampfverband". Am nächsten Tag wurden weitere Liberalisierungen des Strafrechts angkündigt. Demonstranten stürmten die Frankfurter Flughafenhalle, um die Abschiebung eines oppositionellen iranischen Studenten zu verhindern. Die Frankfurter Universität wurde wieder von Polizei besetzt. Der Dachstuhl des Hauptgebäudes brannte ab. Die Ermittlungsverfahren gingen in die Tausende.

Urteile wie gegen Dieter, Monika, Fritz, Antje, Rainer, Karl, Dagmar, Volker usw. häuften sich. Thomas Schmitz Bender, München, acht Monate Gefängnis; Rolf Pohle, Rechtsreferendar, München, 15 Monate Gefängnis; Heinz Koderer, München, neun Monate Gefängnis; Beate Klarsfeld, Berlin, ein Jahr Gefängnis; Daniel Cohn-Bendit, Frankfurt/Main, acht Monate Gefängnis; Gaston Salvatore, Berlin, neun Monate Gefängnis; Rolf Schwiedrzik, Berlin, sieben Monate Gefängnis; Gerhard Rothmann, München, sieben Monate Gefängnis; Günther Schmiedel, Hamburg, 21 Monate Gefängnis.

Von den Revisionsinstanzen waren nur in Ausnahmefällen mildernde Strafen zu erwarten. Von den zwischen 1933 und 1945 verbeamteten Richtergenerationen hatte nach Adam Riese noch keine das Pensionsalter erreicht. Diese Richter waren jetzt zwischen fünfzig und fünfundsechzig Jahre alt und standen in der Fülle ihrer Macht. Sie dominierten die oberen Instanzen.

Irgendwann hatte ich in einem liegengebliebenen "Spiegel" noch etwas über den Gründungsparteitag der maoistischen KPD/ML gelesen. Der Gründungsparteitag der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) am 12. März 1969 war mir bereits entgangen. Zeitweise kroch ich bei einer alten Bekannten unter. Die totgesagte parlamentarische Demokratie feierte ein umstrittenes Comeback. Die praktische Umsetzung der Notstandsgesetze wurde gebremst. In den Parteien zeigte sich keine Neigung, eine Geschäftsordnung für das Notparlament auszuarbeiten. Die Mitgliederzahlen der SPD begannen plötzlich zu steigen. Ich aber las keine Zeitungen mehr. Es wurde überlegt, uneheliche Kinder ehelichen gleichzustellen, und ich sehnte den Sommer herbei. Eine Vorverlegung der Volljährigkeit auf 18 Jahre wurde ins Auge gefaßt. Eine große Strafrechtsreform wurde angekündigt, die Legalisierung des Ehebruchs und der Homosexualität, der Unzucht mit Tieren, der Erschleichung außerehelichen Beischlafs und der Pornographie. Abtreibung sollte vom Verbrechen zum Vergehen herabgestuft, der Tatbestand des Auflaufs gestrichen, das Arbeitshaus, das Zuchthaus abgeschafft werden.

Die Gewerkschaft der Polizei wandte sich gegen die von der Großen Koalition geplante Einführung der Vorbeugehaft. Der Westberliner Polizeipräsident Hübner schuf ein "Diskussionskommando", die "Gruppe 47", die unter anderem von dem SDS-Funktionär Peter Gäng geschult wurde.

Am 10. Juni 1969 wurde die Berufung der Frankfurter Brandstifter abgelehnt, aber am 13. Juni setzte man sie auf freien Fuß. Andreas Baader und Gudrun Ensslin starteten eine Agitation in geschlossenen Jugendheimen und Jugendgefängnissen, in denen unbeschreibliche Mißstände herrschten. Man ließ die beiden gewähren. Teilweise wurden sie von den Behörden sogar unterstützt.

In den Wohnungen, in denen ich träumend auf Matratzen lag, lief "Dr. John the Nighttripper", John Mayall, "What a Bringdown". Im Flur stapelten sich die Mülltüten, über denen Schwärme von Fruchtfliegen hingen.

Dieter war noch immer auf freiem Fuß. Er begann, zwischen einer Bleibe und der nächsten, davon zu träumen, einen Staatsanwalt zu entführen. Mir ist noch ein Bauwagen in Zehlendorf in flüchtiger Erinnerung, den ich musterte und der als mögliches Volksgefängnis auch nicht in Frage kam.

Als die sechswöchige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall Gesetz wurde, sah ich voller Bewunderung einem Weggefährten dabei zu, wie er gekonnt eine Schachtel Zigaretten aus dem Automaten fingerte. Die Gründung der Roten Zelle Germanistik und das Kernstück des neuen Berliner Universitätsgesetzes, die Drittelparität, die gleichberechtigte Beteiligung der Studenten, des akademischen Mittelbaus und der Professoren am Konzil, der Berliner Schlüssel 7:4:3:1 all das hatte keine Auswirkungen mehr auf meinen weiteren Lebensweg. Auch erreichte mich der folgende Aufruf nicht mehr. Ich verließ die Stadt, diesmal für viele Jahre.

"JUSTIZOPFER ALLER LÄNDER VEREINIGT EUCH! ...
KNASTCAMP EBRACH BEI BAMBERG
15.-21.Juli 1969 (ROTE KNASTWOCHE)
MITBRINGEN: farbe, papierrollen, handabzugsmaschinen, musikinstrumente,
kinder, kleinere zelte, DECKEN, SCHLAFSÄCKE,
LUFTMATRATZEN, streichhölzer, kameras, filme, pinsel, proviant,
hasch, streichhölzer, trips, wasserfeste kleidung für waldspaziergänge,
ölfarbe, plakatfarbe, fotoapparate, tonbandgeräte, steinschleudern,
granatwerfer, viel farbe, ärzte, verbandszeug, wassereimer,
KOCHTÖPFE, messer, häftlingskleidung ... spraydosen, knaller,
megaphone §§§§§§§§§§§§§§§
MIT DEM JOINT IN DER HAND REVOLUTION AUF DEM
LAND - STÜRMT DAS GEFÄNGNIS!!!
ZENTRALRAT DER UMHERSCHWEIFENDEN HASCHREBELLEN"

PS

Geringfügigere nationalsozialistische Straftaten fielen unter das allgemeine "Straffreiheitsgesetz" vom 31. Dezember 1949. Die mit bis zu zehn Jahren Gefängnis oder Zuchthaus bedrohten nationalsozialistischen Straftaten verjährten 1955.

Nationalsozialistische Totschlagsdelikte verjährten nach kurzer Bundestagsdebatte im Mai 1960. Die gesetzliche 20jährige Verjährungsfrist für bis zum 8. Mai 1945 begangene Morde wurde, wie bereits erwähnt, 1965 mit dem Argument, zwischen dem 8. Mai 1945 und dem 31. Dezember 1949 sei eine reguläre deutsche Strafverfolgung nicht möglich gewesen, um diese viereinhalb Jahre bis zum 31. Dezember 1969 verlängert. Am 26. Juni 1969 trat der Bonner Bundestag zusammen und beschloß, die Verjährungsfrist für Mord generell von 20 auf 30 Jahre zu verlängern, für bis zum 8. Mai 1945 begangene Taten also bis zum 31. Dezember 1979. Die CSU und die FDP stimmten dagegen. Die CSU im Grunde unter dem Motto "Unsere Ehre heißt Treue", die FDP, weil sie bei den bevorstehenden Bundestagswahlen ihre Stammwählerschaft, das ehemalige Reichswehr-Militär, angeführt von dem Ritterkreuzträger Erich Mende, nicht ganz verlieren wollte.

Big Lift

Daß die westlichen Alliierten und die Sowjetunion entschlossen waren, im Fall Berlin das Kriegsbeil zu begraben, zeigte im Juli 1969 ein Zwischenfall, der in den Jahren davor noch ernste diplomatische Verwicklungen und Waffengeklirr ausgelöst hätte.

In der alliierten Stadt Westberlin hatte die Bundeswehr nichts zu suchen. Da nach alliierter Auffassung die Stadt nicht zum Bundesgebiet gehörte, durften offiziell Bundeswehrdeserteure nicht in die BRD ausgeliefert werden. Es wurde in der BRD zwar ein Haftbefehl ausgestellt, aber dieser durfte in Westberlin nicht vollstreckt werden. In vielen Fällen wurde dennoch abgeschoben, unter der Hand. Durch Zufall bei Schwarzarbeit, bei einer Razzia, bei einer Demonstration festgenommene Deserteure wurden wie gewöhnliche Kriminelle mit diesen zusammen ins Bundesgebiet ausgeflogen. Offiziell war es verboten.

Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke desertierte Manfred Grashof aus der Heeresfliegerschule Bückeburg bei Hannover, fuhr nach Westberlin und ging ins SDS-Büro. Die folgenden Monate lebte er in verschiedenen SDS-Wohnungen und in der Kommune 2. Er machte zeitweise den Kinderladen in der Jebensstraße und jobbte tageweise als Hilfsarbeiter. Er war kein Einzelfall. Mindestens 30 bis 40 Deserteure waren in der Stadt. Ein Treffen im Republikanischen Club wurde eingerichtet.

Im Sommer 1969 beschloß dieser Kreis, sich offiziell in Westberlin anzumelden und seine Legalisierung anzustreben, und zwar unter Hinweis auf den alliierten Status Westberlins. Manfred Grashof und Hans Zirk besorgten sich bei einem Kostümverleih Bundeswehruniformen - deren Tragen in Westberlin natürlich verboten war - und begaben sich am 3. Juli 1969 mit zwei weiteren Deserteuren in das für die Stephanstraße 60 zuständige Polizeirevier, um sich mit der Adresse der Kommune I im britischen Sektor formvollendet anzumelden. Grashof und Zirk wurden festgenommen.

Am nächsten Tag schrieb Horst Mahler an die Alliierte Kommandatur und den Botschafter der UdSSR in der DDR und verlangte unter Berufung auf die geltende Proklamation Nr.2 des Alliierten Kontrollrats vom 20. September 1945 die sofortige Freilassung der Verhafteten. Das Schreiben blieb ebenso wie ein Brief des Rechtsanwalts Hans-Christian Ströbele an die Alliierte Luftsicherheitszentrale unbeantwortet.

Am 25.Juli forderten 2.500 Demonstranten vor der U-Haftanstalt Moabit die Freilassung der Inhaftierten. Es kam zu Unruhen auf dem Kurfürstendamm. Zwei Tage später wurden Grashof und sechs weitere Deserteure unter furchtbaren Schlägen in einen Gefangenentransporter verbracht und zunächst in den Hof des Zuchthauses Tegel gefahren, wo sie drei Stunden inmitten Hunderter Polizisten, die sich aus Gulaschkanonen verköstigten, in glühender Sonne warteten. Dann wurden sie über den Hintereingang des Zuchthauses auf das Rollfeld des franzÖsischen Militärflugplatzes Tegel geschafft und schließlich unter schwerer Gewaltanwendung in eine US-Maschine gezwungen und in die Sitze gefesselt. Zwei der Deserteure waren infolge der Schläge bis Hannover bewußtlos. Die Stewardeß weinte und bediente trotz Einspruchs der deutschen Kripobeamten die Verschleppten, die, soweit sie noch bei Bewußtsein waren, vergeblich auf das Auftauchen sowjetischer Abfangjäger hofften. In einem vom SDS verteilten Flugblatt hieß es: "Die Regierungen der Alliierten wissen, daß westberliner Behörden keine Amtshilfe zugunsten der westdeutschen Bundeswehr leisten dürfen - die Völker der Anti-Hitler-Koalition wollen es nicht."

Knastcamp Ebrach

"KOMMT MASSENHAFT NACH EBRACH! Ab 15.7. treffen sich auf dem 1. Knastcamp in Ebrach die Landfriedensbrecher, Aufrührer, und Rädelsführer! Im Jugendgefängnis von Ebrach sitzt seit mehreren Monaten Reinhard Wetter. Viermal wurde er erwischt, als er sich ums Vaterland verdient machte:

1. Aus Protest gegen eine Fahrpreiserhöhung verteilte der damals Zwanzigjährige im Oktober 1967 in einer Münchener Straßenbahn gemeinsam mit anderen Flugblätter und wollte keinen Fahrschein kaufen.

2. Mitte Januar 1968 erschien Wetter gemeinsam mit anderen in Polizeiuniformen in Vorlesungen.

3. Am 30. Januar 1968 soll Wetter bei einer Demonstration vor dem griechischen Generalkonsulat einen Stein gegen das Gebäude geworfen haben.

4. Anfang Februar 1968 versuchte Wetter gemeinsam mit anderen im Münchner Amerika-Haus die Eröffnungszeremonie einer Graphikausstellung zu einer Diskussion über den Vietnamkrrieg umzufunktionieren ... Kommt massenhaft zur Roten Knastwoche nach Ebrach."

Dieter und seine Freunde machten sich auf. "Da für viele von uns im Sommer 1968 Gerichtsurteile rechtskräftig wurden ... und nur noch die Ladungen zum Strafantritt ausstanden, waren wir von der Knast-Campidee begeistert. Es war nicht schwer, weitere Berliner APO-Leute für die Mitreise zu gewinnen. Als sich die Berliner Karawane, mit dem von Tommy Weisbecker "organisierten" neuen Ford-Bus des AStA der TU an der Spitze, auf die Transitstrecke nach Hirschberg machte, ahnten wir nicht, welches Polizeiaufgebot uns in Franken erwartete, wußten wir nicht, wo die Reise enden würde - nur weg, schnell weg aus Berlin, wo wir außer Knast nichts mehr zu erwarten hatten ..."

Der Trupp hatte sein Ziel noch nicht erreicht, da war vom Landratsamt Bamberg schon jedes "wilde Zelten" im Kreis verboten worden. Am 15. Juli irrten bereits 35 Fahrzeuge, darunter auch Fritz mit seinen Münchner Freunden, ziel- und planlos in der Gegend umher. Abends zog eine kleine Schar mit roten Fahnen um die Strafanstalt. Schließlich lagerte man mit Genehmigung des Besitzers auf einer Wiese bei Füttersee, Ldkr. Scheinfeld.

Am Morgen des 16. brach eine Gruppe von sieben oder acht Autos, darunter auch der Berliner Bus, verfolgt von polizei, nach Bamberg auf, um das Gespräch mit dem Landrat zu suchen. An einer Ampel gestoppt, konnte der Konvoi nach einer kurzen Rauferei, an der sich auch Dieter beteiligte, seine Fahrt fortsetzen. Gegen Mittag strömten etwa 40 Camper ins Landratsamt. Da der Landrat nicht da war, wurde er u.a. von Fritz und Dieter in seinem Büro erwartet.
statt seiner rückte aber Polizei an. Nun flogen ein oder zwei Aktenstöße aus dem Fenster. Rainer Langhans war, entgegen allen Presseberichten, nicht dabei. Es handelte sich vielmehr um jenen Jimie Vogler, der die Kommune I Anfang Juni 1969 das erste Mal besucht hatte. Einige Zeitungen meldeten, in Ebrach sei die Dreierbande der Kommune I wieder geschlossen am Werk.

39 "Besetzer" wurden festgenommen. Zwei Angeschuldigte verstopften das Klosett von Zelle 8 mit Semmelknödeln und setzten sie unter Wasser. Am Donnerstagvormittag verteilten kleine Trupps in Bamberg ein Solidarisierungs-Flugblatt. Gerüchte von einer Massenverhaftung liefen um, aber nach einer Haftprüfung waren um 14 Uhr alle wieder frei. Es wurde gefilmt. Hochrufe auf Mao wurden ausgebracht. Ab 18 Uhr fuhren etwa 20 Fahrzeuge, mit Plakaten geschmückt, die eine Diskussion und Demonstration am Samstag,16 Uhr, in Ebrach ankündigten, wieder nach Füttersee.

Es war schon sonderbar, wer sich alles auf dieser Wiese am Waldrand traf. Es war, ohne daß es den Beteiligten bewußt war, ein gemeinsamer Abschied von der APO. Mit Dieter, Ina und Fritz, Georg von Rauch und Weisbecker waren die späteren "Tupamaros Westberlin" und "Tupamaros München" präsent. Aus Frankfurt waren für einige stunden Baader und Ensslin herübergekommen. Mit Fritz und seinen Münchner Freunden, mit Irmgard Möller, Brigitte Mohnhaupt, Rolf Heißler und Rolf Pohle saßen nicht wenige zukünftige Mitglieder der "Bewegung 2. Juni" und der RAF mit im Gras. Und eine ganze Reihe von Leuten fanden sich später in verschiedenen spontaneistischen und marxistisch-leninistischen Grüppchen als Wortführer wieder.

Am Freitag, den 18. Juni, schickte der Bundesminister und Vorsitzende der CSU Franz Josef Strauß folgendes Telegramm an den bayrischen Ministerpräsidenten: "Lenke Ihre Aufmerksamkeit auf die Vorgänge im Bamberger Raum, wo die APO sich außerhalb der natürlichen Gepflogenheiten des primitivsten menschlichen Anstandes stellt. Die Außergesetzlichen haben in gröbster weise die öffentliche Ruhe und Ordnung gestört, das Lanäratsamt in Bamberg besetzt, die Akten durch das Fenster auf die Straße geworfen und sich bei ihrer Festnahme in übelster Form aufgeführt. Diese Personen nützen alle Lücken der Paragraphen des Rechtsstaates aus, benehmen sich wie Tiere, auf die die Anwendung der für Menschen gemachten Gesetze nicht möglich ist, weil diese Gesetze auch bei Rechtsbrechern noch mit Reaktionen rechnen, die menschlichen Kreaturen eigentümlich ist ... Dieser Terror muß endlich gebrochen werden."

Strauß phantasierte öffentlich: "In Bamberg haben Apo-Revoluzzer öffentlich uriniert und geschissen, eine Studentin hat nacheinander mit zwei Partnern vor den Augen der Öffentlichkeit und im Beisein von drei- bis sechsjährigen Kindern den Geschlechtsverkehr vollzogen."

Am Abend wurde ein Grüppchen, das vor dem Gerichtsgebäude in Bamberg mit Passanten diskutierte, in eine Schlägerei verwickelt. Der Fotograf Werner Kohn wurde gejagt, Rufe wurden laut: "Hängt ihn auf!" Vor einem kleinen politischen Buchladen, den es seit kurzem in Bamberg gab, hielten mit quietschenden Bremsen drei oder vier Autos. Ein mit Hämmern und Eisenstangen bewaffneter Trupp stürmte die Räume. Die schwangere Freundin des Inhabers rettete sich eine Treppe höher zu zwei alten Frauen, denen das Haus gehörte und die vor Angst zu beten begannen. Der Inhaber wurde zu Boden geprügelt, ein Kunde mit einem Hammer niedergeschlagen, der Laden kurz und klein gehauen. Zwei inzwischen eingetroffene Polizisten sahen dabei ungerührt zu. Der bei dem Vorfall verletzte, in Bamberg tätige französische Sprachlehrer Wolfgang Laifaoui wurde im Krankenhaus von einem Pfleger mit den Worten empfangen: "Besser wär's, man hätte dich Sau totgeschlagen."

Die für den Samstag geplante Demonstration in Ebrach wurde verboten. Drei Italiener, die ein Bild aufs Pflaster malten, auf dem sich Mao mit Reinhard Wetter unterhielt, wurden festgenommen. Am Nachmittag wurde die Wiese in Füttersee von einer drohenden Menschenmenge belagert. "Den Zorn der Masse zogen sich die Demonstranten auch zu, als sie einem jungen Hammel, den sie sich gekauft hatten, mit roter Farbe das Wort "Hund" aufmalten ... So zogen sie es denn auch vor, noch in der gleichen Nacht aus Füttersee zu verschwinden. Bis Mitternacht war das ganze Lager geräumt." Am Montag, den 21. Juli, konnte das Bamberger "Volksblatt" melden: "Die APO ist in unserer Gegend unerwünscht. Drohende Haltung der Bevölkerung und Polizeimaßnahmen führen zum frühen Ende des Knast-Camps."

Gibellina

Bei den italienischen Pflastermalern, die angesichts der vielen scharfen Polizeihunde ein Schaf von einem Schäfer gekauft, als "Hund" beschriftet und mit mehreren Fragezeichen versehen hatten, handelte es sich um die "Uccelli". Das war die Gruppe versponnener Architekturstudenten, die am 1. März 1968 in Rom die Demonstration in der Valle Giulia angeführt hatten, bei der sich die römischen Studenten das erste Mal tätlich gegen die Polizei zur Wehr setzten.

Einen für die Beschriftung des Schafes von der bayrischen Polizei ausgestellten Strafzettel wegen "Tierquälerei" über 5 DM bezahlte Giuseppe de Siati, ein Deutsch-Italiener, der 1967/68 in Berlin studiert hatte und dabei mit der Kommune I in Kontakt gekommen war. Über ihn hatten die "Uccelli" vom Ebracher Treffen erfahren.

Sie waren nicht ohne Absichten in die fränkische Provinz geeilt. Seit Anfang 1969 verfolgten sie den kuriosen Plan, auf den Spuren Garibaldis Italien von Sizilien aus zu befreien. wie der große Nationalheld wollten sie mit einem Schiff in Marsala landen, die Insel revolutionieren und dann von Süden her auf Rom marschieren. Dabei zählten sie auf die Überlebenden eines Bebens, das im Januar 1968 das westsizilianische Städtchen Gibellina dem Erdboden gleichgemacht hatte. Diese wohnten dort seither in Behelfsbaracken.

Wie einst ihr Nationalheros wollten die Uccelli für die geplante Expedition internationale Brigadisten werben. Bei Dieter und Fritz, die mit einem Bein im Gefängnis standen, fanden sie offene Ohren. Ein Versuch, auch Ensslin und Baader zu begeistern, mißlang. Ein Abstecher nach Frankfurt/Main, um bei den beiden noch einmal nachzuhaken, war vergebens. Es wurden zwar Telefonnummern ausgetauscht, aber nach einem Festmahl, für das Paolo Ramundo das Ebracher Schaf zum Erstaunen der Deutschen nach der Art italienischer Hirten schlachtete und häutete, wandten sich die Uccelli ohne die Kaufhausbrandstifter nach München, wo sie mit den Kommunarden verabredet waren"

Der Berliner Transit-Bus hatte am Sonntag, den 20. Juli 1969, Ebrach Richtung Süden verlassen. Auf der Raststätte Steigerwald rief Kunzelmann noch einmal in der Berliner Kommunefabrik an und führte eine Befragung durch, ob seine Rückkehr erwünscht sei. Dies wurde von Rainer und den anderen Anwesenden einmütig verneint. Es war der Tag, an dem um 21:17 Uhr MEZ die US-Landefähre "Eagle" auf dem Mond aufsetzte. Dieter verfolgte die ersten menschlichen Schritte auf dem Mond in München in der Kommune "Wacker Einstein", Fritzens Zuhause.

Einige Täge später fuhren die "Uccelli" und der Berliner Bus mit Dieter, Ina, Fritz, seiner Freundin Inga, Weisbecker und Rauch nach Mailand weiter. Auch Jimie Vogler war wieder dabei. Fritz und seine Gruppe reisten über die Schweiz, da er eines Wien-Abenteuers wegen in Österreich Einreiseverbot hatte. In Mailand wohnte die ganze Bande im Atelier des Malers und Bildhauers Enrico Castellani. Von dort aus besuchte sie u. a. Feltrinelli und den Maler Renato Guttuso, der im ZK der Kommunistischen Partei Italiens saß, und warb um Unterstützung für ihr Unternehmen, wobei die Uccelli die Angesprochenen auch, wenn nötig, auf witzige, aber immer untadelig höfliche Weise in moralische Bedrängnis brachten und damit eigentlich immer ihr Ziel erreichten.

Bei den mittellosen Deutschen, die ja teilweise auf Entzug waren und im damaligen Italien auch nicht ein Krümelchen Haschisch aufzutreiben vermochten, die kein Wort Italienisch verstanden und sich oft auf die Aktivitäten ihrer Gastgeber keinen Reim machen konnten, entwickelte sich bald ein Gefuhl wütender Hilflosigkeit.

Nach etwa einer Woche kam ein zweiter deutscher Schwarm nach, darunter ein Münchner VW-Bus mit Edda Köchl und ihrem Freund Wim Wenders, dem Filmemacher. Ein böser LSD-Trip hatte ihn im Krankenhaus festgehalten und dadurch seine Abreise verzögert. Nun wurde Rom abgegrast. Marco Ferreri, der Filmregisseur, Piero Dorazio, der Maler, Sergio Corbucci, Carlo Levi, Roberto Matta und andere, sie alle spendeten Geld oder Kunstwerke. Große Holzkisten wurden gebaut, dazu bestimmt, die deutschen Genossen aufzunehmen. Die Teutonen sollten in diesen, in ihren Augen sargähnlichen Gebilden als internationale Hilfslieferung für die sizilianischen Erdbebenopfer in Marsala angelandet werden und dort aus ihrer Verschalung hervorbrechen. Sie mußten in den Kisten probestehen, diese wurden ihnen angemessen, was zu neuen Irritationen führte.

Anfang August gelang es, in Anzio von einem Fischer die "Cagli II" fur 8o.ooo Lire pro Tagzu chartern. Das Gepäck war schon an Bord, als sich die Capitaneria del Porto plötzlich weigerte, die Genehmigung zum Auslaufen zu erteilen.

Dieter: "Also fuhren wir alle, ein wilder Haufen von immerhin vierzig bis fünfzig Leuten, nach Rom, um uns im dortigen Marineministerium die erforderliche Auslaufgenehmigung direkt zu beschaffen. Der zuständige Admiral war entweder im Urlaub oder hatte sich versteckt oder war bei seinem Freund, jedenfalls wurde uns die Genehmigung verweigert, und so kam es zwangsläufig zu einigen Rangeleien und Verfolgungsjagden durch die endlosen Flure des am Tiber gelegenen Prachtbaus."

Am 22. August wurden Dieters acht Monate rechtskräftig. Am 28. August trat in Westberlin Karl Pawla seine zehnmonatige Haftstrafe an. Ein Flugticket, das der in der Nähe Roms lebende Komponist Hans Werner Henze bezahlte, wurde dazu benutzt, einen bei Ebrach liegengebliebenen VW wieder flottzumachen und mitsamt einem Brocken Haschisch und zwei falschen Pässen nach Italien zu holen. Dieter färbte sich den Schnurrbart und begann sich zu verkleiden. Als ein letzter Versuch in Gaeta, ein Schiff flottzumachen, mißlang, krindigten er, Ina, Weisbecker, Rauch, insgesamt neun Deutsche, den "Uccelli" die Gefolgschaft.

Dieter: "In einer endlosen Nachtdiskussion in einer eleganten Wohnung zu Roma wurde die Idee geboren, statt zu den Erdbebenopfern nach Sizilien zur Al Fatah nach Palästina zu fahren."

Nun, da ein höheres politisches Ziel am Horizont auftauchte, machte sich bei diesem Teil der Deutschen das bittere Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, von Entmündigung, Sprach-, Orientierungs- und Mittellosigkeit Luft. Die Wohnung von Uccello Paolo Liguori wurde energisch betreten, kategorisch wurde Geld verlangt, und als dieses nicht sofort ausgehändigt wurde, Paolo Ramundo an den Beinen gepackt und auf den Kopf gestellt. De Siati, der als Dolmetscher der Entwicklung nicht unvorbereitet gegenüberstand, befriedigte daraufhin die Haschrebellen mit einer angemessenen Summe.

In den wenigen Tägen, die sie noch in Rom verbrachte, traf Dieters Truppe auf der Piazza Navona rein zufällig auf die Hamburger "Ablaßgesellschaft", darunter Mascha Rabben, so daß er folgende Meldung nach Westberlin durchgeben konnte: "ZENTRALRATSADRESSE DER SEKTION ITALIEN (NORD) AN DEN ZENTRALRAT DER UMHERSCHWEIFENDEN HASCHREBELLEN

... Die ganze Sizilien-Expedition ist für uns ... gescheitert, d. h. an "schweren ideologischen Differenzen" mit den Italiener ... Zusammen mit ein paar "Leuten" von der Ablaßgesellschaft aus Hamburg planen wir jetzt einen Orient-Trip (El Fatah, Kurdistan + vielleicht noch weiter nach China), die Route entscheidet sich an den connections zur El Fatah in Frankfurt und den Kurden in Berlin. Wir sind bisher nur durch die Meldungen in den Zeitungen informiert, wo stand, daß Studenten bei der El Fatah 1. für den Kampf dort 2. die Terrorakte im Ausland + 3. in Organisationsfragen ausgebildet werden. Für mich selbst ist der 2. Punkt einer der wichtigsten ... Wir fahren jetzt nach Mailand ...

MIT DEM JOINT IN DER LINKEN HAND, REVOLUTION IM ARABIENLAND ENDE"

Am 4. September 1969 machte der angeschriebene ZENTRALRAT in "agit883" den Vorschlag, "die Räume der bisherigen K 1 zu besetzen und daraus ein Rebellenhauptquartier zu machen".

Fritz und Inga beschlossen, anders als Dieter, den "Uccelli" nach Sizilien zu folgen. Die Künstler und ihre deutschen Gäste begaben sich mit angelegten Schwimmgürteln zum Flughafen Fiumicino, verließen, weiter mit Schwimmgürteln um den Leib, rückwärts laufend den Flugplatz von Trapani, setzten sich rückwärts in den Zug nach Marsala, marschierten dort rückwärts in den Hafen, legten die Gürtel endlich ab, bestiegen eine Barkasse, fuhren in das Hafenbecken hinaus und konnten nun endlich, die Brust voran wie einst Garibaldi, in Marsala landen.

Dann ließen sie sich einen Karren bauen, vor den sie ein weißes Maultier spannten, und zogen in tagelangen Fußmärschen nach Gibellina. In einer Lokalredaktion, die über das Unternehmen berichtete, tippte Fritz auf einer Schreibmaschine; "Ich bin klein - ich will hier weg - ich lieb dich - ich will hier weg - ich auch dringend - schnell schnell schnell schnell."

Am Ziel angekommen, überreichte die Expedition dem Bürgermeister von Gibellina als symbolisches Begrüßungsgeschenk einen Schwimmgürtel. Schon lief der Herbstregen in die undichten Behelfsbaracken der Erdbebenopfer, aber keines von ihnen wollte auf Rom marschieren. Als die Uccelli als letzte - freilich nie ausgeführte - Tat die Errichtung eines babylonischen Turmes auf den Trümmern des Dorfes ankündigten, waren die Deutschen, "angeführt von einem gewissen Fritz, einem Schüler von Rudi Dutschke", wie "Paese Sera" am 19. September 1969 meldete, schon wieder auf dem Weg nach Norden.

Hauptpostlagernd

Die Haschrebellen hatten sich inzwischen in Mailand Geld bei Feltrinelli und die nötigen Empfehlungsbriefe besorgt. Am 21. September 1969, eine Woche vor den Wahlen in der BRD, griff Dieter zur Feder:

"Lieber H... ! Lieber B... !
Beiliegenden Brief an Karl befördere bitte weiter in den Knast ... Morgen verschwinden wir endlich aus diesem Drecksitalien in Richtung el Fatah ... Unsere Anschrift für die nächste Zeit: Ina Siepmann, Amman, Jordanien, hauptpostlagernd ... Falls die Stephanstraße total zusammenkracht und ihr sie nicht besetzt, so rette doch bitte das KI-Archiv, alle Maschinen und sämtliche Bücherkisten von der Bodenkammer. Alle meine Bücher stehen Häftlingen zur Verfügung; falls also z.B. Karl sich weiterbilden will im Knast, so kann er alle Bücher haben, bevor sie dort vergammeln oder von irgendwelchen Idioten verkauft werden ...
Gruß Dieter".

In einem für Karl Pawla beigelegten Schreiben hieß es:

"Lieber Karl!
Wir haben erst hier in Italien von deinem Entschluß gehört, freiwillig in den Knast einzumarschieren ... Der Verlauf der Ebrach-Geschichte und die von uns mitproduzierte miese Berlinsituation haben mich davon überzeugt, daß ein freiwilliger Strafantritt zum jetzigen Zeitpunkt wohl von den verfügbaren Möglichkeiten her nur die allerletzte gewesen wäre ... Wären wir nur noch eine Woche auf unserer Wiese im Steigerwald gesessen und hätte uns nicht die eigene Hysterie vertrieben, so könnte ich dir heute die freudigste Mitteilung meines Lebens machen: Bamberg und der dazugehörige Landkreis sind befreites Gebiet und der Revolutionsrat ernennt Karl-Heinz Pawla zum vorsitzenden des Amtes fur Denkmalschutz. Aber so bist du weg vom großen Fenster und kein Hahn kräht nach dir ... Schade daß du nicht mit uns gefahren bist!
Gruß, Dieter".

Über Jugoslawien wurde Bulgarien angesteuert, um die Militärdiktatur Griechenland zu umgehen. Das kommunistische Land war vergleichsweise lasch. Dieters falscher Paß fiel an der Grenze nicht auf, bloß die westlich-dekadente Haarpracht der Einreisenden mußte fallen, wie es ein realsozialistisches Erniedrigungsritual damals befahl. Als der Ford Transit in Sofia ankam, spielte dort gerade die Fußballmannschaft der BRD. Die Haschrebellen entfalteten im Stadion ein Bettlaken mit der Aufschrift "Freiheit für Pawla!" Sie wurden sofort von Geheimpolizei eingesammelt und weggeschafft, dann aber nach kurzer Sistierung an die türkische Grenze eskortiert. Die bulgarischen Behörden wollten keine Probleme. Bei den IX. Weltjugendfestspielen 1968 in Sofia hatten einige SDSler unter Führung ihres Bundesvorsitzenden Karl Dietrich Wolff versucht, vor der US-Botschaft eine Vietnam-Demonstration durchzuführen. Dem bulgarischen Geheimdienst war es zwar in Zusammenarbeit mit moskautreuen, hauptsächlich Kölner SDSlern gelungen, den Protest zu ersticken, aber die Sache hatte internationales Aufsehen erregt.

Über Istanbul und Ankara, wo die nötigen Einreisevisa besorgt wurden, ging die Reise weiter, über Adana und Antakya nach Syrien, über Latakia in den Libanon und dann über Beirut und das Beka-Tal nach Damaskus, von wo aus die Haschrebellen vom Verbindungsbüro der Al Fatah in die jordanische Hauptstadt weitergeleitet wurden.

Bei der Al Fatah

Amman, eine der ältesten kontinuierlich bewohnten städte der Welt, der Sitz des 1921 von den Engländern als Emirat installierten haschemitischen Königshauses, diente 1969 zwei Herren: dem jordanischen König Hussein, dem Oberhaupt der zum allergrößten Teil als Beduinen wirtschaftenden alteingesessenen Bevölkerung, und dem faktischen Oberhaupt der fast doppelt so zahlreichen Palästinenser, dem nach dem Sechs-Tage-Krieg kometenhaft zum palästinensischen Nationalpolitiker aufgestiegenen Yassir Arafat.

Nach dem vergeblichen Versuch der Palästinenser und der arabischen Staaten, 1948 mit Waffengewalt die von der UNO beschlossene Gründung des Staates Israel auf einer Hälfte des ehemaligen britischen Mandatsgebiets Palästina zu verhindern, hatte der größte Teil der über 500.000 von den Israelis vertriebenen Palästinenser in Jordanien Zuflucht gefunden. Dort lebten sie seither in Flüchtlingslagern, versorgt mit UNO-Nahrungshilfen, dahin. Jordanien annektierte mit stillschweigender Billigung Israels das eigentlich für einen Palästinenserstaat vorgesehene Westjordanland und stellte den Flüchtlingen jordanische Pässe aus.

"Nach dem Krieg von 1948 glaubten David Ben Gurion und die gesamte israelische Führung, das palästinensische Volk habe aufgehört zu existieren." Die israelische Regierung konnte mühelos behaupten, die Palästinenser seien nichts anderes als eine Erfindung diverser arabischer Diktatoren. Auch die Gründung der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO auf der arabischen Gipfelkonferenz von 1964 änderte zunächst noch nichts an der absoluten Abhängigkeit der Palästinenser von dem jeweiligen arabischen Regime, unter dem sie lebten.

Zwischen der in den fünfziger Jahren von Arafat gegründeten Al Fatah und der PLO gab es lange keine Gemeinsamkeiten. "Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, daß die Fatah nicht nur gegen Israel gegründet wurde, sondern auch gegen alle arabischen Staaten und ihre verhaßte Heuchelei, mit der sie sich als Hüter der enteigneten Palästinenser aufpielen." Die Al Fatah war eine unabhängige palästinensische Partei, seit 1965 mit einem militärischen Flügel, der hauptsächlich von Syrien aus Freischärleraktionen in Israel durchführte.

"Was Arafat auszeichnete, war seine Entschlossenheit zu militanter Aktion ohne Rücksicht auf Erfolgschancen oder die Geringfügigkeit seiner Kräfte. Sein Evangelium war ganz einfach: Die Palästinenser müssen anfangen zu kämpfen, um ihre selbständige Existenz in dem Raum zu beweisen und um einen Kompromiß zwischen Israel und den arabischen Regimen unter Ausschluß der Palästinenser zu verhindern. Die Fatah hat entsetzliche Greueltaten begangen, Aber sie hat gewiß die beiden Ziele erreicht, die Arafat gesetzt hatte."

Arafats Stunde schlug nach dem israelischen Sieg im Sechs-Tage-Krieg 1967. Die katastrophale Niederlage diskreditierte Nasser und die anderen arabischen Staatsführer. Die israelische Besetzung des Gaza-Streifens, der Golanhöhen, Ostjerusalems und nun auch des Westjordanlandes löste eine neue gewaltige palästinensische Flüchtlingswelle aus. Die Tragödie von 1948/49 wiederholte sich. Wieder floh der Großteil der Palästinenser in das nunmehr geschrumpfte Jordanien und durfte nach Kriegsende nicht mehr zurückkehren.

Am 21. März 1968 versuchten israelische Infanterie- und Panzereinheiten, das Hauptquartier Arafats in einem palästinensischen Flüchtlingslager im jordanischen Städtchen Karameh zu vernichten. Als Al Fatah, anstatt die Stellung zu räumen, widerstand, bis sich die Al Fatah übernahm die Führung der palästinensischen Flüchtlinge in Jordanien, deren Zahl durch den Junikrieg noch einmal um mindestens 150.000 gewachsen war. Allein 46.000 von ihnen hausten in Zelten und notdürftigen Hütten im Lager Baqaa nicht weit von Amman.

Im September 1969, als die deutschen Haschrebellen in Amman eintrafen, konnte man von einer Doppelherrschaft in Jordanien sprechen. Die Al Fatah war zur autonomen Macht im Land geworden. Sie und die Streitkräfte des auf einen Ausgleich mit Israel bedachten Königs Hussein standen sich bewaffnet gegenüber. Die Spannungen, die sich ein Jahr später im gräßlichen Gemetzel des "Schwarzen September" entladen sollten, bei dem die königliche Armee 20.000 Palästinenser abschlachtete, waren bereits deutlich spürbar.

Überrascht stellten die Besucher fest, daß auf den Straßen der jordanischen Hauptstadt fast alle, besonders die Palästinenser, bewaffnet herumliefen. Freundlich aufgenommen, wurden sie an einer Ausfallstraße in einer Wohnung untergebracht, von deren Fenster aus ein Beobachter der Al Fatah sorgfältig die Fahrzeuge der regulären jordanischen Armee registrierte.

Arafat trafen die Berliner nur zweimal kurz. Längere Gespräche führten sie mit Faruk al-Kaddumi (Abu Lutoff), dem außenpolitischen Leiter der Al Fatah, der noch heute eine nicht unbedeutende Rolle in der PLO spielt, und mit dem militärischen Leiter Khalil elWazir (Abu Jihad), der 1988 in Tunis wenige Monate nach Ausbruch der ersten Intifada als deren Organisator von einem Kommandotrupp des israelischen Geheimdienstes ermordet werden sollte.

Eine einwöchige militärische Ausbildung der Gäste in der Jordansenke hatte hauptsächlich symbolische Bedeutung. Nach dem üblichen Besuchsprogramm, nach der Besichtigung von Kindergärten, Schulen, Sanitätsstationen und Nähwerkstätten, nach einem Krankenhausbesuch bei den Opfern eines israelischen Napalmangriffes wurde den Deutschen klar, daß sie hier, abgesehen von Ina Siepmann mit ihrer pharmazeutischen Ausbildung, nicht von Nutzen waren. Ina und Dieter nahmen Abschied voneinander, und für längere Zeit mußte er sich mit ihren Briefen zufriedengeben, in denen es etwa hieß: "Da, wo ich allein bin, in meinem Zimmer, ist es bitterkalt, und auch habe ich keinen Tisch und nichts. Ich lebe wahrhaft wie eine Nonne: arbeiten, essen, schlafen, Nur, daß es wohl lustiger zugeht. Aber selbst an dem Teufel, der mich in Versuchung führen will, fehlt es nicht."

"Georg, noch jemand und ich" - so Kunzelmann - "setzten uns in den Ford-Bus und fuhren über Aleppo in das türkische Adana und entlang der Mittelmeerküste nach Istanbul zurück, Auf dieser Fahrt, vorbei an Kreuzritterburgen, Moscheen und griechischen Theatern, entstand erstmals die Idee, bei unserer Ankunft in Berlin nach dem Vorbild südamerikanischer Großstädte eine Stadtguerilla-Gruppe aufzubauen: die Tupamaros West-Berlin."


Ulrich Enzensberger
Die Jahre der Kommune 1. Berlin 1967 - 1969
ISBN 978-3462034134