»Wir haben es versucht«

Vor 25 Jahren entfÜhrte die »Bewegung 2. Juni« den Berliner CDU-Chef Peter Lorenz. Von Rainer Balcerowiak

junge Welt Inland 25.02.2000

Am 27. Februar 1975 machte sich der damalige Berliner CDU-Vorsitzende Peter Lorenz gegen 8 Uhr 30 auf den Weg zu seinem BÜro im Rathaus SchÖneberg. Wie an jedem Arbeitstag holte ihn sein Fahrer in einem Dienst-Mercedes von seiner Wohnung im Villenviertel Grunewald ab. Nach wenigen Metern wurde der Wagen an einer Kreuzung durch einen quergestellten Lastwagen blockiert, während von hinten ein Pkw auf die Stoßstange des Mercedes auffuhr. Mehrere bewaffnete Personen Überwältigten den Fahrer, stießen ihn auf die Straße und fuhren mit dem Politiker davon. Der wurde mit einer Spritze betäubt, und nach mehreren Wagenwechseln erreichten die EntfÜhrer ihr vorbereitetes Domizil in der Kreuzberger Schenkendorfstraße, wo Peter Lorenz, in einer MÖbeltruhe versteckt, in einen Keller verbracht wurde. Als Tarnung diente dabei ein bereits Monate zuvor erÖffneter TrÖdelladen Über dem von den EntfÜhrern so genannten

»Volksgefängnis«.

Aus Zehlendorf geklaut

Noch am gleichen Abend ging bei der Deutschen Presseagentur (dpa) ein Bekennerschreiben der »Bewegung 2. Juni« mit einem Bild des EntfÜhrten ein. In ihm wurde die Freilassung von sechs inhaftierten militanten Kämpfern des 2. Juni und der Roten Armee Fraktion (RAF) im Austausch mit der Geisel gefordert. Ein Liedermacher der Berliner Sponti- Szene verbreitete am gleichen Abend in diversen Westberliner Kneipen eine EntfÜhrungshymne:

An einem schÖnen Donnerstag Es hatte grad getaut da wurde Peter Lorenz aus Zehlendorf geklaut.

Er kam gleich in die Kiste und allmählich wurd ihm klar Daß er nun ein Gefangener des zweiten Juni war.

Der Zeitpunkt der EntfÜhrung war geschickt gewählt. Vier Tage später sollte in Berlin ein neues Abgeordnetenhaus gewählt werden. Peter Lorenz wurden gute Chancen eingeräumt, den damals amtierenden Regierenden BÜrgermeister Klaus SchÜtz (SPD) abzulÖsen. Die im Bund und in der Stadt regierende SPD konnte es sich schwerlich leisten, in dieser Situation den CDU-Politiker der Staatsräson zu opfern. Lediglich der damalige Bundesjustizminister Hans- Jochen-Vogel (SPD) bekennt heute, daß er seinerzeit ein vehementer Gegner des Eingehens auf die Forderungen der EntfÜhrer gewesen sei. »Ich hab' damals schon gesagt, wir dÜrfen nicht nachgeben. Denn indem wir das Leben eines Mannes retten, opfern wir eine unbestimmte Zahl von Menschen, die von den Freigelassenen anschließend ermordet werden«, erklärte Vogel am 17. Februar in einer ARD- Sendung. Doch der Krisenstab unter Leitung von Bundeskanzler Helmut Schmidt entschied bereits nach wenigen Stunden, der Rettung des Lebens von Peter Lorenz absoluten Vorrang zu geben und gegebenenfalls den Forderungen der EntfÜhrer nachzugeben. Da alle Fahndungsmaßnahmen der Berliner Polizei erfolglos blieben und auch ein eigens eingeflogener Hellseher den Aufenthaltsort des CDU-Politikers nicht ermitteln konnte, wurde rechtzeitig vor Ablauf des Ultimatums der EntfÜhrer der Gefangenenaustausch in die Wege geleitet.

Der militante »Blues«

Am 3. März konnten fÜnf von der Bewegung 2. Juni benannte Gefangene (der sechste, Horst Mahler, hatte die Aktion abgelehnt und sich nicht ausfliegen lassen) eine vollgetankte Boeing besteigen und mit zunächst unbekanntem Ziel abfliegen. Begleitet wurden sie vom frÜheren Berliner BÜrgermeister Pfarrer Heinrich Albertz (SPD), der von den EntfÜhrern als Vermittler benannt worden war. Nach einem längeren Irrflug landete die Maschine schließlich in Aden, der Hauptstadt der Volksdemokratischen Republik im SÜdjemen, deren Regierung noch auf dem Flughafen ihre Bereitschaft zur unbeschränkten Asylgewährung fÜr die Befreiten erklärte.

BemÜhungen der Bundesregierung, die Regierung in Aden mittels einer grÖßeren Geldsumme zu einer Revision dieser Entscheidung zu bewegen, scheiterten. Nachdem Pfarrer Albertz am darauffolgenden Tag zurÜckkehrte und im Fernsehen die zwischen den EntfÜhrern und den befreiten Gefangenen vereinbarte LÖsungsformel (»So ein Tag, so wunderschÖn wie heute«) verlas, wurde Peter Lorenz noch am gleichen Abend im Volkspark Wilmersdorf unversehrt auf freien Fuß gesetzt.

Mit der erfolgreichen Aktion rÜckte eine Gruppe in den Mittelpunkt des Öffentlichen Interesses, die zwar ähnliche historische Wurzeln wie die Rote Armee Fraktion hatte, sich aber dennoch deutlich von ihr unterschied. Die Diskussion

Über die MÖglichkeit, eine Stadtguerilla nach sÜdamerikanischem Vorbild in der Bundesrepublik aufzubauen, begann in der antiautoritären Studentenbewegung der sechziger Jahre. Die Gewalt der Polizei gegen Demonstranten, die gegen die deutsche UnterstÜtzung des Vietnamkrieges und faschistischer Regierungen auf die Straße gingen, ließ die Zahl derjenigen, die ein militantes Vorgehen gegen den Staat fÜr notwendig und mÖglich hielten, rasch anwachsen. Als dann bei einer Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs in Berlin am 2. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg von dem Polizeiobermeister Karl Heinz Kurras erschossen wurde, gewann diese StrÖmung schnell neue Anhänger. Aus einem politisch äußerst heterogenen subkulturellen Umfeld bildeten sich spontan Gruppen wie die »Tupamaros Westberlin«, die

»umherschweifenden Haschrebellen« oder die »militanten Panthertanten«, die mit Steinen und Molotow-Cocktails Banken, BehÖrden und Botschaften attackierten.

Das ummauerte und subventionsgepäppelte Westberlin entwickelte sich zum Eldorado fÜr Aussteiger und Utopisten aller Couleur. Es entstand eine breite Infrastruktur aus linken Rechtsanwaltskollektiven, Kinderläden, Buchläden, Kneipen, Druckereien und autonomen Stadtteil-, Kultur- und Themengruppen wie z.B. die »Rote Hilfe«. In diesem Umfeld, das sich die Verbindung des Kampfes gegen die lustfeindlichen, miefigen Strukturen der BRD mit der aktiven Solidarität mit den Befreiungskämpfen in der »dritten Welt«

auf die Fahnen geschrieben hatte, bildete sich ein beträchtliches Widerstandspotential. In diesem »Blues«, wie sich die diffuse StrÖmung selbst bezeichnete, lernten sich auch die späteren Mitglieder der Bewegung 2. Juni kennen.

Am 14. April 1970 wurde im Zusammenhang mit der geglÜckten Gefangenenbefreiung des wegen einer Kaufhausbrandstiftung verurteilten Andreas Baader offiziell die GrÜndung der »Rote Armee-Fraktion« (RAF) bekanntgegeben, die sich als bewaffnete marxistisch- leninistische Avantgarde verstand und auf streng hierarchischen und klandestinen Strukturen aufbauen wollte. Kontakte zwischen der RAF und dem militanten »Blues« verliefen grÖßtenteils ergebnislos: Das subkulturelle Milieu der Sex&Drugs&Rock'n'roll-Rebellen und der elitäre intellektuelle Anspruch der RAF-GrÜnder um Ulrike Meinhof paßten einfach nicht richtig zusammen. Trotzdem gab es zwischen beiden Gruppen im Laufe der Jahre immer wieder Kontakte und abgestimmte Aktionen.

Die militanten Blues-Leute begannen sich mittels BankÜberfällen das Geld fÜr eine eigene illegale Infrastruktur zu beschaffen. Bis zu zwÖlf konspirative Wohnungen und dreißig Fahrzeuge mit gefälschten Kennzeichen wurden zeitweilig benutzt. Eine eigene Druckerei sorgte fÜr gefälschte Papiere aller Art. Man definierte sich als Bestandteil des weltweiten Kampfes gegen den Imperialismus und knÜpfte auch internationale Kontakte, z. B. zur IRA und zu den Roten Brigaden in Italien. Besonders wichtig waren die Verbindungen zu palästinensischen Gruppen, die ihren hochgeschätzten europäischen VerbÜndeten sowohl Waffen und Ausbildung als auch gesicherte RÜckzugsmÖglichkeiten im Libanon garantieren konnten.

Der Kreis der »Illegalen« sollte mÖglichst klein gehalten werden und in ein breites Umfeld von legal lebenden militanten UnterstÜtzern eingebettet werden. In ihren Hochzeiten hatte die »Bewegung 2. Juni«, wie sie sich seit FrÜhjahr 1972 offiziell nannte, keine Probleme, bis zu 40 000 Flugblätter mit Kommandoerklärungen binnen Stunden in Berlin verteilen zu lassen.

Staat schlägt zurÜck

Rasch wuchs jedoch der Fahndungsdruck. Mehrere Aktivisten saßen bereits wegen der Beteiligung an Brandanschlägen und BankÜberfällen hinter Gittern. Bei Polizeirazzien in Berlin und Hamburg gab es 1971 die ersten Toten: Petra Schelm und Georg von Rauch. Die Aktionen der illegalen Gruppe waren zunehmend auf den Selbsterhalt ausgerichtet. Zwar gab es nach wie vor Attentate und Brandanschläge auf Depots und Kasernen der US-Army in Deutschland und auf Einrichtungen und Repräsentanten von Justiz und Staatsapparat, die Fahndungserfolge der Polizei drohten die Gruppe jedoch langsam auszuzehren. So geriet die Idee der Freipressung inhaftierter Genossen mittels einer EntfÜhrung bald in den Mittelpunkt der Planungen.

Doch die Euphorie in der militanten Linken Über die gelungene Aktion am 27. Februar 1975 währte nur kurz. Nach einer kurzen Schockphase erholte sich der herausgeforderte deutsche Staatsapparat schnell von der erlittenen DemÜtigung. Mit einem zÜgigen Ausbau des Gewalt- und Überwachungsapparates und mit Gesetzesänderungen zum Abbau demokratischer Grundrechte wurde die gnadenlose und letztlich erfolgreiche Jagd auf die »Staatsfeinde« intensiviert. Umgekehrt begann sich die Integrationspolitik der SPD/FDP- Regierung gegenÜber den Protagonisten der 68er Revolte langsam auszuzahlen. Neben einer Amnestie fÜr Demonstrationsstraftaten wurde auch reichlich »Staatsknete«

fÜr eine Bildungsreform und dezentrale Kulturprojekte aufgeboten. Das Liebäugeln mit einer revolutionären Umwälzung in der BRD wich zunehmend der Perspektive des »Marsches durch die Institutionen«.

Durch Aktionen wie die Sprengung der deutschen Botschaft in Stockholm im April 1975 und den damit verbundenen Tod von vielen Unbeteiligten verloren die militanten Gruppen zudem rapide an Sympathie und UnterstÜtzung in der linksradikalen Szene. Alle Teilnehmer an der Lorenz-EntfÜhrung und weitere Mitglieder wurden innerhalb des ersten Halbjahres 1975 gefaßt und 1978 zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Viele dieser Gefangenen verbrachten mehrere Jahre in den hermetisch von den anderen Gefängnisbereichen abgeschotteten Hochsicherheitstrakten. Gegen diese Form der Isolationsfolter erhob sich breiter Protest, dem sich auch BÜrgerrechtler und kirchliche Kreise anschlossen.

Eine BlÖße wie bei der erfolgreichen EntfÜhrung von Peter Lorenz gab sich der Staat nicht wieder. »Arbeitgeber«präsident Hanns-Martin Schleyer, der am 5. September 1977 entfÜhrt wurde und gegen elf inhaftierte RAF-Mitglieder ausgetauscht werden sollte, wurde der Staatsräson geopfert und starb durch einen Genickschuß seiner EntfÜhrer. Die EntfÜhrung eines deutschen Touristenjets, mit der die Freilassung von zwei tÜrkischen und elf deutschen Gefangenen, darunter der zu lebenslanger Haft verurteilten RAF-GrÜnder Baader, Ensslin und Raspe, erpreßt werden sollte, endete auf dem Flughafen Mogadischu im Kugelhagel einer Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes. Der bis heute nicht aufgeklärte Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe unmittelbar nach der gescheiterten FlugzeugentfÜhrung, die wie Ulrike Meinhof ein Jahr zuvor (9.Mai 1976) in den Gefängniszellen von Stuttgart-Stammheim umgekommen waren, markierte den Anfang vom Ende der Illusion einer bewaffneten Revolte »im Herzen der Bestie«. Die Aktivitäten der sogenannten zweiten und dritten Generation der RAF beschränkten sich auf einzelne Anschläge und kollektive Hungerstreiks in den Gefängnissen zur Verbesserung der Haftbedingungen. Das von der RAF 1970 verkÜndete

»Konzept Stadtguerilla«, d. h. die Verbindung sozialer Kämpfe und militärischer Aktionen in den Metropolen, war gescheitert.

Die Bewegung 2. Juni machte noch durch einige spektakuläre GefängnisausbrÜche und EntfÜhrungen zur Geldbeschaffung von sich reden und lÖste sich 1980 auf. Einige ihrer Mitglieder schlossen sich daraufhin der RAF an, andere erklärten die Aufgabe des bewaffneten Kampfes. Till Meyer, einer der Lorenz-EntfÜhrer, schreibt in seinem Buch »Staatsfeind« zu dieser Phase: »Nach zehn Jahren Stadtguerilla-Praxis gab es Fragen Über Fragen: Mit wem und fÜr wen wollten wir kämpfen und vor allem - was wollten wir erreichen. Daß die Marginalisierten der Zweidrittel- Gesellschaft, auf die wir so große Hoffnung setzten, nicht per se zur Revolte neigen, wollte man damals einfach nicht kapieren.« Wie den meisten seiner frÜheren Mitstreiter geht es ihm dabei keineswegs um persÖnliche Reue. »Auch wenn der Stadtguerillakampf in dieser historischen Phase scheitern mußte - wir haben es versucht und bewiesen, daß es geht«.

Bis heute in Kraft

Insgesamt zehn im Untergrund lebende Mitglieder beider Gruppen nahmen das Angebot der Staatssicherheit der DDR an, aus der Guerilla auszusteigen und sich dort niederzulassen. Nach Preisgabe ihrer Identität durch den letzten DDR- Innenminister Peter-Michael Diestel wurden diese Aussteiger 1990 verhaftet und vor Gericht gestellt. Einige von ihnen stellten sich der Justiz als Kronzeugen zur VerfÜgung und entgingen so langen Gefängnisstrafen. Andere militante Aktivisten sind bis heute in Haft. Trotz einiger Begnadigungen und vorzeitiger Haftentlassungen in den letzten Jahren ist noch nicht erkennbar, ob der deutsche Staat als Sieger in der kurzen Epoche des bewaffneten Kampfes in der Bundesrepublik zu einem entsprechenden Schlußstrich in Form der Beendigung der Haft fÜr alle ehemaligen Kämpfer der militanten Gruppen bereit ist.

*** BÜcher zum Thema:

Inge Viett: Nie war ich furchtloser. Nautilus, Hamburg 1997, liegt auch als Rowohlt-Taschenbuch vor, 16,90 DM.

Till Meyer: Staatsfeind. Erinnerungen. Goldmann-Verlag, MÜnchen, Taschenbuch, 19,90 DM.

Ralf Reinders, Ronald Fritzsch: Die Bewegung 2. Juni. Edition ID-Archiv 1995, 20 DM.