Erinnerungen an Wolfgang Neuss, 30 Jahre später
von Werner Pieper
Foto von Richard Majchrzak
Einige von Wolfgangs Aussagen in jenem HUMUS-Interview hatten ja geradezu prophetische Züge. Die 80er begannen und er kam nochmal gewaltig - bevor er sich bzw. seinen Körper abschaffte. Und dieses Gespräch war wohl in der Tat, nicht nur sein erstes "seit 7 Jahren", sondern erweiterte offensichtlich auch Wolfgangs Welt. "Ein langes Interview mit Werner Pieper im Humus-Magazin (Ausgabe 3, 1979) war der Auftakt zu zahlreichen Porträts in Rundfunk und Fernsehen (u. a. von Volker Kühn, Tilman Jens und Rüdiger Daniel), die der medienerfahrene Wolfgang Neuss geschickt zu Kabarettauftritten umfunktionierte. Bevor er gefilmt oder fotografiert wurde, pflegte Neuss beispielsweise seinen Zahnersatz herauszunehmen, um die Betrachter zu schockieren." heißts bei Wikipedia.
Dazu möchte ich noch etwas zu meiner damaligen Motivation nachtragen. Ich hatte mir Gedanken gemacht, wer in unserem Kulturkreis der 60ern, frühen 70ern wichtig gewesen und zu Ende des Jahrzehntes aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden war. Im HUMUS-Magazin ging es (mir) um das Ausloten der 'eigenen' Kultur. Plump gesagt: Alles vor 1945 führte zu den Nazis, also konzentrieren wir uns auf das, was danach kam, like Sex & Drugs & Rock'n'Roll.
Johannes Nikel, Ernest Bornemann, Lippmann & Rau wirkten noch, Chris Howland leider nur noch als Karrikatur, doch zwei fehlten: Rolf Ulrich Kaiser, der Gärtner des Krautrock, und Wolfgang Neuss, dessen Film 'Wir Wunderkinder' für mich eine der ersten Kritiken am aufblühenden Konsumterror war. Kaiser verschwand 1975 spurlos - ward nie wieder gesehen. Über meine - fast erfolgreiche - Suche nach ihm schrieb ich 2008 in dem Buch 'Alles schien möglich; 60 Sechzigjährige über die 60er Jahre - und was aus ihnen wurde'.
Zu Neuss führte mich, wie beschrieben, H. D. Heilmann, der einen geschichtlich größeren Horizont hat(te) und unter unserer Kifferei sicherlich litt. Erst dieser Tage schrieb er mir, diesmal in Bezug auf Brummbär Buch 'Der Gammler': "Heute handelt es sich um Geschichtsschreibung. Gerade in den vergangenen zehn/zwanzig Jahren passierte das, was nach 1848, 1918/19 geschah: ein paar genannte Namen bleiben übrig und eine 'Geschichte' wurde 'geschrieben', die dem wahren Geschehen nicht 'gerecht' wurde. Wenn ich also diese alle zu spät gekommenen (Kraushaar, Koenen, Aly) zur Kenntnis nehmen muß, sage ich hier & überall und jedem der's hören will "Uns wird unsere eigenen Geschichte entwunden!" Kaiser und Neuss waren tragende Eckpfeiler 'unserer' Kultur, ihre Taten sind jedoch auf mehreren Ebenen im kollektiven Bewußtsein 'verjährt' oder vergessen.
Für mich bleibt vor allem der erste Besuch bei Neuss unvergessen. Da saß ich vor dem großen Helden, war überrascht und erfreut, daß er von der Grünen Kraft und meinen Magazinen gehört hatte. Und plazierte mit glühenden Ohren mein (Uher Report) Tonbandgerät zwischen uns. Doch halt, da stand plötzlich seine Frage nach einem Honorar im Rauche des Raumes. Für Beiträge im Kompost gab es nie Honorar, doch für einige längere Artikel im HUMUS Naturalien: 10 mit Herz, Hand & Hirn-Logo bedruckte Trips. Dann der Schock in Form von Neussens Frage: "Taugen die auch was?" In meiner Welt eine so mißtrauische Frage, auf Grund derer ich den Raum eigentlich sofort hätte verlassen sollen - aber ich nahm dieses Mißtrauen nicht persönlich. Er gab zwei der Trips seinem Mundschenk Tommy, und als der später großäugig die Qualität bestätigte, setzte ich das Tonband in Bewegung ... Passend zu diesem Set & Setting auch das Cover jener HUMUS-Ausgabe: ein Foto der ersten größeren Demo in der BRD, die im Kreis abgehalten wurde, und im Hintergrund farbige Sterne, von Originaltrips abkopiert. Die Cut-up-haftige Widergabe des Gespräches und der Neuss-Hintergründe entsprach der Sprunghaftigkeit einer Sitzung bei ihm. Ein verbaler Pfadfinder: allzeit bereit für einen neuen Gesprächsfaden ... und dann wurde nahtlos weitergesponnen. Wenn er in die Runde rief "Verstehste?!", hatten die Anwesenden oft kaum etwas im neuss'schen Sinne verstanden, einige ihn auch falsch, aber fast immer war es dennoch mehr als genug im Kopf, mit dem man sich irgendwann irgendwo im frühabendlichen Berlin wiederfand.
So begannen die 80er Jahre des Wolfgang Neuss. Er war wieder da. Im Hier & Jetzt. Und wie.
In den folgenden Jahren besuchte ich ihn regelmäßig in seiner Höhle; er lebte mietfrei in einer Wohnung, die ihm Rechtsanwalt Kurt Groenewold zu Verfügung stellte. Ich habe ihn jedoch ausschließlich vor seinem wunderlichen und wuchernden CutUpPatchwork an der Wand auf dem Boden sitzend erlebt. In den 70ern - wie auch nach seinem Tod bis heute - meidete ich Berlin. Doch nach einem Besuch bei ihm, dem ersten mir bekannten älteren bewußtem Konsumverweigerer und Geldverachter, und einem Tag in Ost-Berlin machte mir Berlin Spaß; bis zu seinem Abschied.
Ost-Berlin war damals - neben Drogen - der billigste Weg (20 DM) in eine andere, fremde Welt. Ich liebte es, mir ein Exemplar der staatstragenden Tageszeitung 'Neues Deutschland' sichtbar unter den Arm zu klemmen und dann einfach als personifiziertes Oxymoron loszulaufen. Ich habe sonst nie wirklich auf Reaktionen meiner Umwelt auf mein manchmal etwas ungewöhnliches Outfit & Aussehen geachtet, aber in der DDR, einer Art Disneyland, ging da kein Weg dran vorbei; ungläubigst starrende Blicke. Ein wiederholter Höhepunkt die Reaktion der russischen Soldaten; ein Beweis, daß Hirnfick funktioniert: Männer in russischen Uniformen nahmen mich nicht wahr. Da drehte sich kein Kopf, die Augen blickten geradeaus. Was nicht sein durfte, konnte nicht sein. Entsprechende Erfahrungsberichte heiterten auch Wolfgang auf.
Wenig später gab ich dann das Büchlein NEUSS' ZEITALTER (Der Frühstücks-Diktator) mit seinen aktuellen Verbalergüssen heraus, und verhalf ihm auch damit zu sein mediales Comeback - denn die 80er Jahre gehörten wieder ihm, bzw. dem öffentlichen Neuss - auch wenn er dazu nur selten vor die Tür gehen mußte.
Besuchszeit war der Nachmittag. Keine Ahnung, wann er morgens aus dem Bett fiel, aber sein Frühstück mit Zeitung nahm er allein in einem Café ein, behauptte er. Burkhardt Seiler schrieb: "Einmal die Woche ist Wolfgang zu 'Mutter Erde' in die Bethanienstraße gelaufen und hat zwei Einkaufsbeutel voll Demetergetreide nach Hause geschleppt. Die Körner waren für die Tauben im Hof. Jeden Mittag gab's eine volle Schüssel auf's Garagendach vor'm Fenster. Und gedacht hat er dabei: Frischen Libanesen, besten Marokkaner, edelsten Türken, feinsten Afghan! Für die Kiffer der Stadt! Danach ging's dann zum Essen beim Jugo an der Ecke - am liebsten Wiener Schnitzel mit Pommes..."
Wenn er sich dann wieder daheim sortiert und Tommy die erste Runde Rauchstengel gerollt hatte, empfing der Meister. Tommy rollte verschiedene Mischungen und oft war auf den Joints notiert, was da genau drin war. Jaja, die Berliner hatten Stil.
Abends war dann aber meist zeitig Ende, Wolfgang war irgendwann von Besuchern wie dem Dope abgefüllt. Kann ich heute, inzwischen älter als Neuss damals, gut nachvollziehen. Zumal der Besucher und Nachfragen mehr wurden.
Ich bat Richard, der mich damals als Fotograf begleitete, um seine Eindrücke, zumal er in der Folge häufiger bei Neuss aufkreuzte. Hier sein Erguß:
"Hallo Wolfi
Wie gehts? Lange nix gehoert ...
A friend with weed, is a friend indeed.
Das stand an der tuer zu deiner wohnung, erster stock in dem 60er jahre wohnungsblock in charlottenburg. Die vertraute umgebung wurde mir immer lieber. Wie der typ der hinter der tuer auf dem fussboden des grossen zimmers sass. Hinter seinem rauchtischchen, poster der sonnensystem an der wand. Einrichtung? Was fuer ne einrichtung. Nicht mal n fernseher, keine stereoanlage. keine music, kein radio. Nix.
Pfeifen gabs und joints. zwei jahre vorher hatte ich grad um die ecke gewohnt. die sonne schien milchig durch die ungewaschenen fenster. Staubig. Mammi, wo isn der staub auf der kommode? Ich hatte da ne telefonnummer reingeschrieben. Nie nicht mal n schlock wasser bei ihm getrunken, keine stulle gegessen ... ? No sir. Geraucht ham wa. Wie die sadhus in indien. Stoned. Bleib sitzen. In der kueche ist der kuehlschrank. Geh nicht hin. Wir bleiben hier sitzen und rauchen. Wenn die manchis kommen ... sitzen bleiben. nicht nachgeben. Einfach sitzen bleiben und weiterrauchen. Und wie saftig die dinger waren.
Da blieb kein platz mehr fuer hunger, heisshunger, munchies. Da wurden witze gerissen. Oder manchmal, wirklich, glaubs, es ist taetsaechlich wahr, wir sassen einfach schweigend da. Das war das schoene bei ihm. Ich konnte einfach da sitzen und nichts sagen.
Polenrichard.
Ich war sein dankbares publikum und erzaehlte ihm ab und zu was so in der taz vor sich geht. er hoerte das gern, glaub ich. Verbindung zu den medien. Hat er ja nie wirklich aufgegeben. War ja unterschwellig immer da. Dieter Hildebrand kam vorbei, manchmal. Hat sich feedback abgeholt. Nina Hagen. Muss mir mal eine der neuen scheiben anhoeren ...
Total auf wolken gehend zum westkreuz und mit der sbahn nach gesundbrunnen, im sommersonnenschein. Rauch richtig. Mitm jaguar uber n kudamm fahren, nicht schnell fahren. Hey fahr langsam, understatement. Das ist stoned, mit 30kmh und ne menge ps, langsam fahren, verstehste!?
Nicht zum kuehlschrank gehen, sitzen bleiben, durch die manchies sitzen bleiben ... verstehste!?
Damals warste juenger als icke heut. Mensch Wolfgang, was ist denn passiert? Das leben ist passiert.
Es war schoen. Danke Wolfgang, fuer die joints, das dope, die lacher, die knaller.
Und dann kam die taz zu dir mit ner kolumne und dann kamen die UFAs mit ihrem volkornbrot und du bist sogar wieder auf ne buehne gestiegen.
Vor der camera: da kam der profi in dir wieder raus. Das hat dir gefallen vor der camera, lights, action zu stehen, zu posieren, schauspielern, acting im rampenlicht: deine natur.
Konnstes dann doch nicht lassen letzten endes, nae, biste dann doch wieder zum kuehlschrank und hast dir den applaus reingezogen. Bravo."
Richard arbeitete damals bei der TAZ, der damalige Kulturchef war Mathias Bröckers. Für ihn schrieb mein Altes Ego Ronald Rippchen 1985/86 für 64 Wochen jeden Dienstag eine Drogenkolumne: "KPD - Kräuter, Pillen, Drogen". In Folge 5 pries und zitierte ich die Zeitschrift 'Krieg dem Rauschgift' - damals die einzige Drogenzeitschrift der Nation.
"Wer in die Seiten der grünlastigen, proterroristischen 'tageszeitung' gepreßt wird, kann sich zugute halten, daß er etwas gilt in der bundesdeutschen Gesellschaft [...] auch wenn man Wolfgang Neuss noch so oft in seiner abstoßenden Häßlichkeit und Erbärmlichkeit zeigt, um vielleicht einen gewissen Gewöhnungsefekt zu erzielen, so bleibt doch die Tatsache, daß er das lebende Beispiel eines drogenabhängigen Menschen abgibt, dessen widerwärtiger und ekelerregender Anblick bestenfalls Mitleid und Erschrecken auslöst."
Was hammwa highter weitergelacht ...
[Alle KPD-Kolumnen erschienen in Buchform als Der Grüne Zweig 119, 'Heiter weiter'. Demnächst auch im digitalen Archiv der Haschrebellen wie bei der Grünen Kraft]
Durch Bröckers wurde Neuss TAZ-Kolumnist, regelmäßige Kurzbeiträge im STERN folgten ebenso wie öffentliche Auftritte bei den Kollegen des besetzten UFA-Geländes, wo auch Fotograf Richard lebte. Zehn Jahre zuvor, als ich beim Release Heidelberg wirkte, waren die späteren UFA-Besetzer noch das Release Trier. Bei ihnen feierte Neuss im Dezember 1983 seinen 60. Geburtstag öffentlich - zwei Tage vor einem der großen Momente in seinem Leben. Da laß ich nochmal Herrn Wikipedia berichten: "Ein Höhepunkt dieser Jahre war die Talk-Show Leute am 5. Dezember 1983, die laut Stern zur "Show des Jahres" wurde. Im Gespräch mit Wolfgang Menge verlas Neuss ein angeblich vom damaligen Regierenden Bürgermeister Richard von Weizsäcker an ihn gerichtetes Glückwunschtelegramm mit dem Satz: "Auf deutschem Boden darf nie mehr ein Joint ausgehen!" Beim anschließenden Auftritt Weizsäckers, der sich damals für die Kandidatur zum Amt des Bundespräsidenten vorbereitete, empfahl Neuss unter tosendem Beifall dem als "Ritschie" angesprochenen Politiker, seinen Bruder (Carl Friedrich von Weizsäcker) "mal öffentlich zu umarmen" - "Das ist der eigentliche Intellektuelle in der Familie" –, und bezeichnete sich als aussichtsreicheren Präsidentschaftskandidaten, allerdings unter einer Bedingung: "wenn die Kinder wählen dürften ... die Kinder wählen immer einen aus der Sesamstraße!"
Zwei Jahre später kam es erneut zu Differenzen mit den Ordnungshütern, die Probleme mit bei ihm gefundenen 79 Gramm Haschisch und 814 LSD-Trips hatten; trotz Haftbefehls blieb Neuss auf freiem Fuß. Im Juli wurde er vom Schöffengericht Moabit zu einem Jahr Gefängnis mit Bewährung verurteilt. 1989 teilte das Amtsgericht Berlin mit, man habe Neuss die Freiheitsstrafe erlassen: "Der Verurteilte hat sich, soweit ersichtlich, bewährt."
Am 5. Mai 1989 – nur ein halbes Jahr vor dem Fall der Berliner Mauer - starb Wolfgang Neuss. Sehr schade, denn die Maueröffnung und 'Wiedervereinigung' hätte ihm mehr bedeutet als Dir und mir und vielen andern zusammen.
Auf seinen Wunsch hin wurde er neben seinem Film- und Kabarettpartner Wolfgang Müller auf dem Waldfriedhof Zehlendorf, Feld UII Grab 112, beerdigt.
Das Wolfgang-Neuss-Archiv befindet sich in Berlin im Archiv der Akademie der Künste.
In den '90ern erschienen auf dem Contrair-Label mehrere - alte wie neuere - Tondokumente von Wolfgang Neuss auf CD.
Lieferbar ist seine Lesung (Flüsterung, Gröhlung, Schreiung) der 'größten Wandzeitung der Welt', die von Ronald Steckel gesammelten Sprüche auf der MAUER; 50 Minuten auf CD; Der Grüne Zweig 244.
Bei den Leuten die im Bett sterben,
da kommt der Geist auf ein Kind was geboren wird.
Du weißt ja,
es ist ein ständiges Kommen und Gehen
auf dieser Erde.
Das heißt also:
seit Leary wissen wir,
es gibt keinen Tod,
es gibt nur Sterben und Geboren werden -
und das macht man mit LSD ...
jedem erlaubt man mal in ner Wolke zu sitzen,
darum gehts nur,
um diese Art von Schulung
& um diese Art von Wissen.
Es gibt keine Irren.
Es gibt nur Geistes-Gestörte,
gestört von einem Geist,
der nicht verstanden wird
von deinem Körper.
Die Leute können
in dieser industriellen Welt
nicht zum Meditieren kommen,
sie sind derartig am Spekulieren ...
die Zunge spekuliert ganz alleine,
da kann das Gehirn aussetzen,
da spekuliert die Zunge ...
es gibt keine Meditaion
heißt das auf Deutsch.
Alles Spekulationskiesewetterdiesealterübensau.
Aber:
Wir machens gerne,
es macht Spaß,
verstehst du?
Man muß sich dazu bekennen,
irgendwie,
weil:
die Industrie hat uns so gemacht,
und da gibt es auch kein Vishnu mehr
und kein Shivadas
und kein Zappa
oder auch kein Böll
oder auch kein Leary -
da gibts nur dich,
DU BIST ES.
Ja,
der das machen muß,
der das auflösen muß.